"Boeldieu?", ruft der deutsche Offizier beim Appell. "De Boeldieu?" Als einzige Antwort ertönt eine Flöte in der Dunkelheit der Nacht. Der Kommandant Von Rauffenstein, unförmig in seine Halskrause gezwängt, rückt nervös sein Monokel zurecht und nimmt es schließlich ab, um nach dem französischen Offizier Ausschau zu halten und ihn besser erkennen zu können, wie er in aller Seelenruhe auf der überhängenden Brüstung des Wehrgangs sitzt. Der Kapitän klimpert mit seinen weißen Handschuhen die Melodie " Le petit navire" auf dem Musikinstrument, das seine Gefängniswärter versäumt haben, ihm wegzunehmen. Hektik kommt im Haupthof von Wintersborn auf: Deutsche Soldaten und die Lichtstrahlen der Scheinwerfer jagen De Boeldieu. Behände klettert dieser die Treppenstufen hinauf. Die Leutnants Maréchal und Rosenthal profitieren von der allgemeinen Verwirrung des Augenblicks, um ihre französischen, englischen und russischen Kameraden zu verlassen und heimlich an dem Seil, das sie unter der Nase ihrer Wärter geflochten haben und nun von oben an der Festungsmauer herabwerfen, aus der mittelalterlichen, zum Kriegsgefängnis umfunktionierten Bastion zu entfliehen. De Boeldieu überquert unterdies ein verschneites Dach, um einen Felsvorsprung zu erreichen. Mit einem Trillern aus seiner Flöte verspottet er seine Verfolger, die die Gewehre anlegen und schießen. Doch der Offizier auf der Flucht kann sich gerade noch flach auf den Boden werfen und den Schüssen entkommen. Von Rauffenstein kommt aufgeregt herbeigelaufen und fleht De Boeldieu an zurückzukommen: "You understand! That if you do not obey my order now I'll have to shoot. I'd hate to do that. I beg you, man to man, come back…"
Die Burg im Herzen der großen Illusion
Es war im Jahre 1937, im tiefsten Winter, als die Burg Haut-Koenigsbourg als Kulisse für die Verfilmung dieser Kultszene aus dem Meisterwerk von Jean Renoir "Die große Illusion", diente. Die Handlung spielt in Deutschland, und der Drehort Elsass lieferte dem Regisseur die passende germanisch geprägte Architektur. Jean Renoir gefiel zweifellos nicht nur die Strenge und Uneinnehmbarkeit, die die Haut-Koenigsbourg ausstrahlt, sondern auch deren senkrecht abfallende Mauern. Denn für sein Szenario benötigte der Filmemacher einen Adlerhorst, aus dem "niemand entkommen kann". Vielleicht spielte bei der Wahl Renoirs auch eine Rolle, dass die Festung dreißig Jahre zuvor vom deutschen Kaiser Wilhelm II. restauriert worden war, dessen Porträts mehrfach im Film auftauchen.
Mehrere Tage lang empfing die Burg Haut-Koenigsbourg in seinen Mauern die Schauspieler Erich von Stroheim ("Der Mann, den man gerne hasst"), Pierre Fresnay (der Elsässer im Team, mit richtigem Namen Pierre Laudenbach) und Jean Gabin (der "Dienstjüngste" des Schauspielertrios). Als Regie-Assistenten hatte Jean Renoir Jacques Becker engagiert (der rund zwanzig Jahre später in die Burgmauern zurückkehrte, um dort seinen Film "Arsène Lupin, der Millionendieb" mit Robert Lamoureux in der Hauptrolle zu drehen). Das Scriptgirl, das im Vorspann des Films unter dem Namen "Gourdji" seinen Auftritt hat, war niemand anderes als Françoise Giroud. Eine kleine Anekdote am Rande: Wegen ihres Mantels aus Fohlenfell, den sie während des Drehs trug, wurde sie von Gabin liebevoll "Mein kleines Pferd" genannt…
Rund vierzig Statisten waren in Sélestat für den Dreh auf der Haut-Koenigsbourg ausgewählt worden. In einer Szene im "Tiergarten " kann man übrigens einen von ihnen deutlich einen Befehl auf Elsässisch rufen hören ("Dü sollsch dò Owe bli!"), der an Sylvain Itkine alias Leutnant Demolder gerichtet ist, als dieser sich, in seine Lektüre vertieft, von einer Gruppe von Häftlingen entfernt, die sich bei einer Schneeballschlacht vergnügen.
Einige Worte zur höchst symbolträchtigen Geranie, "der einzigen Blume in der Festung", die vom Offizier, im Film von Erich von Stroheim dargestellt, mit großer Hingabe gepflegt wird: Bei der Auskundschaftung der Haut-Koenigsbourg wenige Monate vor dem Dreh bemerkt der Filmarchitekt Eugène Lourié eine Geranie, die einen Fenstersims schmückt. Begeistert von der Farbe und poetischen Bedeutung, die diese Blume den schwindelerregenden und rauen Festungsmauern verleiht, schlägt er Renoir vor, eine solche Blume in die Wohnräume von Von Rauffenstein zu integrieren, die im Filmstudio nachgestellt werden. "Eine Geranie?", antwortet der ihm, "Machen Sie mal! Vielleicht benutze ich sie ja."
Bei Ihrem nächsten Besuch in der Burg werden Sie bestimmt die Höfe, Plätze, Fassaden, Treppen und Wehrgänge wiedererkennen, die ganz oder teilweise im Film auftauchen. Machen Sie sich mit all den Orten vertraut, die dem Meisterwerk "Die große Illusion" zweifellos eine glanzvolle Filmvergangenheit verdanken.
Einer der bedeutendsten Filme des 20. Jahrhunderts
Orson Welles sagte über den Film "Die große Illusion": "Wenn ich einen einzigen Film mit in meine Arche nehmen könnte, um ihn für die Nachwelt zu bewahren, es wäre "Die große Illusion" von Renoir". Und Franklin Roosevelt: " Alle Demokraten der Welt sollten "Die große Illusion" ansehen".
Der Film zählt zu den Meisterwerken des 20. Jahrhunderts und ist das Symbol eines universellen und pazifistischen Kinos. Weder Geschichts- noch Kriegsfilm: Das Werk von Jean Renoir erfasst die Menschen in ihrer ganzen individuellen Komplexität, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. "Die große Illusion", dessen Außenszenen in der Colmarer Kaserne, in Neuf-Brisach/Volgelsheim, in den Hochlagen von Fréland und natürlich auf der Burg Haut-Koenigsbourg gedreht wurden, profitiert von einer glanzvollen Starbesetzung: Jean Gabin, Erich Von Stroheim und der Elsässer Pierre Fresnay.
Aufgrund von fehlendem Patriotismus wurde der Film ab 1940 in Frankreich verboten und auch in Deutschland von Goebbels verbannt, der ihn als "Kinofeind Nummer eins" bezeichnete. Und doch hat "Die große Illusion" die Jahre überdauert und sich als eine unumgängliche Referenz des Films behauptet.
Die Rückkehr der großen Illusion auf die Bildschirme
"Die große Illusion" auf Blu-Ray erhältlich.